Javier Martínez-Torrón war ein junger Universitätsstudent in Granada, Spanien, als er zum ersten Mal religiöse Inklusion miterlebte.
Die Art, wie die katholische Universität, an der er eingeschrieben war, mit zwei Kollegen marokkanischer Herkunft und islamischen Glaubens umging, hatte großen Einfluss auf seine Wahrnehmung der Welt sowie auf seine Karriere.
Heute ist Martínez-Torrón Professor für Rechtswissenschaften an der Madrider Universität Complutense, wo er auch die Abteilung für Recht und Religion leitet. Er beobachtete, dass muslimische Studierende nie gedrängt wurden, zu konvertieren oder auch nur an einem der katholischen Seminare teilzunehmen. Im Gegenteil, zu einer Zeit, als religiöser Pluralismus in Spaniens und Europas Bildungssystemen noch nicht die Norm war, erstellte die Hochschule spezielle Menüpläne während des Fastenmonats Ramadan und sorgte dafür, dass muslimischen Studierenden, sofern sie das wollten, niemals Schweinefleisch serviert wurde.
„Das mag heute selbstverständlich erscheinen, aber damals hatte das großen Einfluss auf mich“, erinnert sich Martínez-Torrón. „Es hat mich gelehrt, dass eine glaubensbasierte Institution religiöse Vielfalt unterstützen kann, anstatt sie zu verhindern.“
Laut dem Professor haben religiöse Schulen ein Recht darauf, ihre Identität und Mission zu bewahren, die sie auch im Namen der Neutralität nicht aufgeben müssen. Andere religiöse Identitäten können trotzdem respektiert werden.
„Viele, auch manche Gerichte, verstehen nicht, was religiöse Identität für Menschen bedeutet“, meint Martínez-Torrón. „Die Tatsache, dass staatliche Gesetze und Verfassungen jedem das Recht geben, sich für etwas zu entscheiden, bedeutet nicht, dass alle Optionen für alle gleich sind. Für diejenigen, die tiefe Überzeugungen haben, sind diese Überzeugungen nicht optional. Wenn wir das nicht verstehen, wird die Religionsfreiheit zu einer Grundfreiheit zweiter Klasse.“
Wie in vielen anderen Gesellschaften auch, kämpfen Glaubensorganisationen darum, sich auf ein gemeinsames System von allgemein anerkannten Rechten und Freiheiten zu einigen. Dieser Prozess, so Martínez-Torrón, sei ganz normal und habe keinen Schlusspunkt, denn anders als bei mathematischen Fragestellungen gebe es bei sozialen Problemen keine endgültige Lösung.
„Work in Progress“
Martínez-Torrón arbeitet derzeit mit einer multidisziplinären Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Universität Freiburg zusammen. Seine Erfahrungen implizieren eine ganz andere Perspektive im Vergleich zu seiner Kollegenschaft, die aus dem Bereich der experimentellen Wissenschaften kommt. „Es ist ‚Work in Progress‘, ein Kampf, den wir führen müssen, wohlwissend, dass wir ihn nie gewinnen werden. Was zählt, ist der Weg, nicht das Ziel: an einem Tisch zu sitzen und darüber zu diskutieren, was für uns wichtig ist. Menschenrechte und Freiheiten sind für uns alle wichtig.“
Da Martínez-Torrón acht Jahre lang im Expertenbeirat für Religions- und Glaubensfreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gearbeitet hat, weiß er, was es bedeutet, mit Menschen mit diametral entgegengesetzten Ansichten und Überzeugungen zu diskutieren und eine gemeinsame Basis aufzubauen.
„Solange niemand versteckte Beweggründe hat und jeder nach dem sucht, was für alle wichtig ist, wird meiner Erfahrung nach immer ein positives Ergebnis erreicht.“ Trotz mangelnder Einigkeit über ihre moralischen Prioritäten arbeiten glaubensbasierte Organisationen sehr aktiv am Thema Menschenrechte. Sie können einen wichtigen Part bei deren Förderung einnehmen.
„Der Wert von religiösen Organisationen, die sich mit Menschenrechten beschäftigen, liegt darin, dass sie direkten Kontakt zur Basis haben, sie repräsentieren die Stimme der Stimmlosen“, so Dr. Elizabeta Kitanovic, Exekutivsekretärin der in Brüssel ansässigen Konferenz Europäischer Kirchen (KEK).
„Normalerweise wählen sie ein oder zwei Themen aus dem breiten Spektrum der Menschenrechtsagenda, denn es gibt viele sehr komplexe Rechtsinstrumente und Mechanismen, die bei der Advocacy-Strategie beachtet werden müssen“, fügt sie hinzu.
Laut Kitanovic befassen sich die meisten religiösen Organisationen zwar auf der Grundlage ihrer eigenen Bedürfnisse mit Menschenrechtsthemen, aber Kooperationen können helfen, bessere Ergebnisse zu erzielen.
„Es gibt unter anderem jüdische, christliche, islamische, buddhistische und andere kirchliche Vertretungen sowie säkulare Plattformen, die sich mit Menschenrechtsfragen an strategischen Orten wie Brüssel, Straßburg, Warschau, New York, Washington DC beschäftigen.“
„Jede Organisation bringt jedoch nur jene Argumente ein, die auf ihren religiösen Fundamenten beruhen.“ Bislang hat man den Eindruck, dass jede Organisation in ihrem Bereich verhaftet bleibt. Manchmal gibt es Zusammenarbeit, um mehr Lobbyarbeit und Kampagnen zu schaffen. Doch das ist momentan eher die Ausnahme als die Regel.“
Ein weiteres Problem, das die Tätigkeit von religiösen Einrichtungen im Bereich der Menschenrechte schwächt, ist laut Kitanovic die mangelnde juristische Kompetenz im Umgang mit anderen lokalen und internationalen Akteurinnen und Akteuren.
„Religiöse Einrichtungen führe theologische Argumentationen lieber in ihren internen Kreisen. Wenn glaubensbasierte Organisationen aber in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für diese Themen schaffen wollen, müssen sie theologische Argumente verwenden, die in politisches und juristisches Vokabular umgewandelt werden“, erklärt Kitanovic. „Bildung ist in diesem Sinne wichtig, da sie hilft, Botschaften aus den heiligen Büchern in eine säkulare, politische und menschenrechtsbasierte Sprache zu übersetzen. Menschenrechtsvertreterinnen und -vertreter in religiösen Settings müssen die theologische, politische und juristische Sprache beherrschen.“
Die Konferenz Europäischer Kirchen hat zwei Handbücher zum Thema Menschenrechte veröffentlicht, die auf einem theologischen und einem juristischen Ansatz beruhen. Seit dem Jahr 2013 veranstaltet die KEK eine Sommerschule zu Menschenrechten, in der sie den Dialog zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen fördert.
„Wir haben eine Regel: Wir sprechen nicht über Menschen, sondern mit Menschen. Wenn wir über Islamophobie diskutieren, laden wir Fachleute aus muslimischen Organisationen ein. Wenn wir über Antisemitismus diskutieren, laden wir Expertinnen und Experten aus jüdischen Organisationen ein. Diese Zusammenarbeit führt zu vielen guten Freundschaften und zu gegenseitigem Lernen“, so Kitanovic.
Sommerschule zu Menschenrechten
Letztes Jahr veröffentlichte die Summer School on Human Rights der KEK eine Pressemitteilung, in der sie das Recht auf freie Meinungsäußerung anerkannte und gleichzeitig Hassrede verurteilte.
In der Erklärung wurden die Bedenken der Vortragenden und Studierenden hinsichtlich der Verwendung von Hassrede im Namen populistischer Politikerinnen und Politiker geäußert, die versuchen, Stimmen zu gewinnen, indem sie Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufhetzen.
Dieses Phänomen ist nicht auf westliche Gesellschaften beschränkt und hat seit Beginn der COVID-19-Pandemie zu einem weltweiten Ausbruch von Hass und fremdenfeindlicher Gewalt geführt.
Eine Welle von Islamophobie traf die indische Hauptstadt Delhi, nachdem eine religiöse Versammlung in einer Moschee im März dieses Jahres als Ursprung eines großen Infektionsclusters vermutet wurde.
„Es gab eine riesige Menge an Hassbotschaften in allen Medien: Print, online und überall“, berichtet Dr. Kanchan Chandan, Sozialforscherin an der Panjab Universität.
„Wir haben in Indien seit Beginn der Pandemie eine Zunahme von Hassverbrechen und Diskriminierung beobachtet. Gruppen, die hauptsächlich betroffen sind oder ins Visier genommen werden, gehören verschiedenen religiösen und ethnischen Minderheiten an.“
Dr. Chandan, deren Arbeitsschwerpunkte religiöse Minderheiten, Gender Studies und soziale Ausgrenzung sind, glaubt, dass Menschenrechtsförderung und Bildung der einzige Weg sind, um Diskriminierung und Ungerechtigkeit innerhalb der indischen Gesellschaft zu bekämpfen.
„Wir waren schon immer in Kasten eingeteilt. Es gab viele Revolutionen und soziale Vordenker, die Veränderungen für das Land vorschlugen. Doch das Kastensystem ist immer noch vorherrschend, obwohl es durch die Verfassung verboten ist“, erklärt sie.
„Wenn wir einen Wandel erleben wollen, müssen wir diejenigen sein, der ihn in der Gesellschaft auslösen. Es braucht Bewusstseinskampagnen und ordentliche Lehrpläne für Kinder, denn sie sind unsere Zukunft. Es ist ein langsamer Prozess, aber eines Tages werden wir es schaffen.“